Dunkle Materie trägt ihren Namen zu Recht

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Dunkle Materie trägt ihren Namen zu Recht

In den letzten 50 Jahren hat die Teilchenphysik enorme Fortschritte gemacht. Drei der vier bekannten Naturkräfte, elektromagnetische, schwache und starke Wechselwirkung, und alle bekannten Materieteilchen werden durch eine einheitliche Feldtheorie beschrieben, die man das Standardmodell der Teilchenphysik nennt. Aber dunkle Ecken im Universum verbleiben. Martin Pohl, Professor für Teilchenphysik, hat sich intensiv mit einer davon beschäftigt, der sogenannten Dunklen Materie.

Im Jahr 2012 wurde das letzte Mosaiksteinchen zum Standardmodell der Teilchenphysik hinzugefügt. Die Experimente ATLAS und CMS beim CERN in Genf gaben die Entdeckung des sogenannten Higgs-Teilchen bekannt. Es ist dafür verantwortlich, dass eigentlich masselose Elementarteilchen wie Quarks (die Bestandteile der Kernmaterie) und Leptonen (das Elektron und seine Brüder) uns als massive, zum Teil sogar recht schwere Teilchen erscheinen. Es hindert sie daran, sich mit Lichtgeschwindigkeit zu bewegen, wie es eigentlich in ihrer Natur läge. Die experimentellen Teilchenphysiker könnten sich nun entspannt zurücklehnen und sich in Ruhe der Ausleuchtung letzter Details im Theoriegebäude widmen. In der Tat denken manche theoretischen Physiker, dass nicht mehr viel passiert, bis sich bei unvorstellbar grossen Energien auch die Gravitation zu den übrigen drei Kräften hinzugesellt. Allein, die Natur hält immer noch viele fundamentale Geheimnisse bereit, die das Standardmodell nicht, oder noch nicht beschreibt. Eines davon ist eine wichtige Komponente in der Zusammensetzung des Kosmos, die sogenannte Dunkle Materie. Es ist also nicht erlaubt, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen solange das Universum noch dunkle Ecken hat.

Der Schwerkraft unterlegen

Die Dunkle Materie trägt ihren Namen übrigens völlig zu Recht. Es handelt sich um Materie in dem Sinne, dass sie der gleichen Schwerkraft unterliegt wie andere Materie auch. Aber sie ist dunkel, weil sie Licht weder aussendet, noch reflektiert oder absorbiert. Spekulationen über schwer fassbare Materieformen sind so alt wie das philosophische Grübeln selbst. Nur dass moderne Naturwissenschaft damit natürlich nicht zufrieden ist. Wenn man Dunkle Materie nicht sehen kann, woher wissen wir, dass es sie gibt?

Dunkle Materie ist beileibe keine seltene Materieform. Im Gegenteil ist sie verantwortlich für den Zusammenhalt der Galaxien, einschliesslich unserer Milchstrasse. Astronomische Messungen können in der Tat auch unsichtbare Himmelskörper nachweisen. Der erste, der dies getan hat, war der Mathematiker Friedrich Bessel. In den 1840er Jahren hat er genaue Messungen der Parallaxe von Sternen benutzt, um zu entdecken, dass Sirius einen Partner hat, den wir heute Sirius B nennen. Sternparallaxe ist die Beobachtung der jahreszeitlichen Verschiebung der anscheinenden Position eines nahen Sterns gegenüber einem weit entfernten Sternbild. Diese Methode hat auch dazu beigetragen, einige Jahre später den Planeten Uranus zu entdecken. So lassen sich anhand der Position und Bewegung sichtbarer Objekte auch unsichtbare nachweisen, die sich nur durch ihre Gravitation bemerkbar machen.

Entdecker der Dunklen Materie

Dunkle Materie

Der Astronom Fritz Zwicky, Sohn eines schweizerischen Baumwollhändlers, wird oft als der Entdecker der Dunklen Materie angesehen. Er arbeitete vorwiegend am California Institute of Technology in Pasadena. In den 1930er Jahren fiel ihm auf, dass sich die Bestandteile des Coma-Galaxienhaufen, einer Ansammlung von mehr als 1000 Galaxien, mit sehr verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen. Geschwindigkeiten von Himmelskörpern misst man mit Hilfe der Doppler-Verschiebung des ausgesendeten Lichts. Das sogenannte Virial-Theorem erlaubt es, die Streuung der Geschwindigkeiten mit der Gesamtmasse des Haufens zu verknüpfen. Zwicky fand, dass diese Gesamtmasse die Summe der sichtbaren Materie weit übersteigt. Er schrieb: «Falls sich dies bewahrheiten sollte, würde sich also das überraschende Resultat ergeben, dass dunkle Materie in sehr viel grösserer Dichte vorhanden ist als leuchtende Materie.» Zwicky war nicht der angenehmste Zeitgenosse, wie schon sein Porträt nahelegt. Allerdings verteidigt seine Tochter sein Erbe und seine Persönlichkeit vehement. Den ersten allgemein anerkannten quantitativen Nachweis Dunkler Materie innerhalb von Galaxien verdanken wir der amerikanischen Astronomin Vera Rubin.

Ihr war in den 1970er Jahren zunächst der Zugang zum Mt. Palomar Observatorium verwehrt worden, unter dem Vorwand, dass keine Damen-Toiletten vorhanden wären. Der Legende nach überwand sie diese Hürde indem sie eine Herren-Toilette kurzerhand umfunktionierte. Mit ihrem Kollegen Kent Ford mass sie die Rotationsgeschwindigkeit der Sterne im Andromeda-Nebel in Abhängigkeit von ihrem Abstand zum Zentrum der Galaxie. Man kann nach den Kepplerschen Gesetzen daraus die in der Bahn der Sterne eingeschlossene Masse bestimmen. Diese sollte also stetig mit dem Abstand abnehmen, sobald sich der Stern am äusseren Rand der Galaxie oder sogar ausserhalb befindet. Stattdessen beobachtete Rubin eine konstante Geschwindigkeit. Dies bedeutet, dass die einzelne Galaxie, genau wie Zwickys Galaxienhaufen, von einem mehr oder weniger homogenen Halo von Dunkler Materie umgeben ist, der zu ihrem Zusammenhalt wesentlich beiträgt.

Einsteins Relativitätstheorie

Ein weiterer schlagender Beweis für die Existenz Dunkler Materie lässt sich mit Hilfe von Gravitationslinsen aufzeigen. Schon Isaac Newton hatte 1704 vermutet, dass Licht durch Materie abgelenkt werden kann. Einsteins allgemeine Relativitätstheorie führte in den 1920er Jahren zum Beweis. Damit lässt sich eine grosse Masse, die sich zwischen Beobachter und Objekt befindet, als Linse verwenden. Umgekehrt kann man anhand des durch die Linse verzerrten Bildes Masse und Form der Gravitationslinse bestimmen, auch wenn sie nicht leuchtet. Die Abbildung auf Seite 24 zeigt den Bullet-Galaxienhaufen (1E 0657-56) im Sternbild Kiel des Schiffes.

Das Bild ist kombiniert aus optischen Aufnahmen (helle Flecken), Röntgenlicht-Aufnahmen des Chandra-Satelliten (rosa) und einem Gravitationslinsen-Bild (blau). Der Bullet-Haufen ist das Produkt eines früheren Zusammenstosses zwischen zwei Galaxienhaufen, der linke bewegt sich nach links, der kleinere rechte nach rechts. Die Dunkle Materie der beiden Haufen hat sich praktisch ungestört weiterbewegt. Dagegen hinterlässt die normale, leuchtende Materie einen kegelförmigen Schweif aus heissem Gas, wie die rosa Komponente zeigt. Er ähnelt der Spur eines Geschosses in einer Flüssigkeit und hat dem Haufen seinen Namen gegeben. Die Verteilung der beiden Materiesorten zeigt, dass Dunkle Materie bei weitem überwiegt, sie stellt im Mittel etwa 85 Prozent der Masse einer Galaxie. Allerdings ist dieser Anteil sehr variabel. Der kürzlich vermessene Galaxienhaufen Dragonfly 44 besteht sogar fast ausschliesslich aus Dunkler Materie. Dunkle Materie existiert also sicher, viele verschiedene Methoden haben das auf kosmischem Niveau nachgewiesen. Wenn sie aus Teilchen besteht, so wie alle andere Materie, wissen wir auch recht gut wie diese beschaffen sein sollten. Sie sollten elektrisch neutral sein (sodass sie nicht leuchten), schwer (sodass sie nicht auseinanderfliegen) und fast nicht mit üblicher Materie wechselwirken (sonst wären sie längst entdeckt). Mit diesem Steckbrief ist die Jagd nach den Konstituenten der Dunklen Materie eröffnet.

Dunkle Materie

Wir werden in den folgenden Ausgaben von FonTimes gemeinsam entdecken, wie diese schwierige Jagd vonstatten geht und welches die bisherigen Hinweise sind.

Autor Martin Pohl

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