Was versteckt sich hinter Dunkler Materie?
Dunkle Materie – In den letzten 50 Jahren hat die Teilchenphysik enorme Fortschritte gemacht. Drei der vier bekannten Naturkräfte, elektromagnetische, schwache und starke Wechselwirkung, und alle bekannten Materieteilchen werden durch eine einheitliche Feldtheorie beschrieben, die man das Standardmodell der Teilchenphysik nennt. Autor Martin Pohl, Professor der Astrophysik, setzt seine Erkenntnisse zur Dunklen Materie fort.
In der letzten Ausgabe von FonTimes haben wir diskutiert, woher wir von der Existenz Dunkler Materie wissen. Was wir nicht wissen, aber vermuten dürfen, ist, dass sie aus Teilchen besteht wie alle andere bekannte Materie auch. Bezeichnen wir sie einmal generisch mit dem griechischen Buchstaben c (chi). Die Astronomie und die Astrophysik geben uns einen recht präzisen Steckbrief an die Hand für die Suche nach den c-Teilchen. Sie dürfen keine elektrische Ladung haben, sonst würden sie leuchten. Sie dürfen nicht zu leicht sein, sonst würden sie sich nicht um Galaxien herum versammeln, und auch nicht zu deren Formation beitragen, sondern sich gleichmässiger verteilen. Und sie müssen sehr wenig miteinander und mit gewöhnlicher Materie wechselwirken, sonst hätten wir sie längst entdeckt.
Im Standardmodell der Teilchenphysik, das die gewöhnliche Materie und ihre bekannten Wechselwirkungen ungeheuer genau beschreibt, findet sich kein solches Teilchen, mit einer möglichen Hintertür, auf die wir am Schluss zurückkommen. Eine untere Grenze für die Masse der c-Teilchen findet man wieder aus der Astronomie: es darf nicht leichter als etwa ein Hundertstel der Elektronenmasse sein. Das ist zwar sehr leicht, aber immer noch viel schwerer als die Masse der Neutrinos –der am wenigsten reaktiven bekannten Teilchen– die noch tausendmal leichter sind.
Hinweise aus der Astronomie
Die meisten Hinweise aus der Astronomie, wie etwa die Verteilung grosser Strukturen –Galaxien und Galaxienhaufen– weisen aber auf sehr viel grössere Massen und damit niedrige Geschwindigkeiten der dunklen Materieteilchen hin. Auch Daten aus der Teilchenphysik legen nahe, dass die c-Teilchen viele hunderte Male schwerer sind als ein Wasserstoffkern. Ihre Konzentration in Erdnähe, also etwa 28’000 Lichtjahre vom Zentrum der Milchstrasse entfernt, liegt dann bei immer noch ein paar tausend c-Teilchen pro cm3. Wir können also hoffen, dass die Restwechselwirkung Dunkler Materie mit gewöhnlichen Atomen nachweisbar ist. Dieser Nachweis ist allerdings extrem schwierig zu führen und bringt die experimentelle Technik der Teilchenphysik an ihre Grenzen. Zum einen ist die Wahrscheinlichkeit eines nachweisbaren Streuprozesses mit einem Atomkern extrem klein.
Man muss den c-Teilchen also einen massiven Detektor von vielen Tonnen Masse entgegenstellen. Zum anderen wird bei der elastischen Streuung von c-Teilchen an Kernen nur sehr, sehr wenig Energie auf den Kern übertragen. Sie lässt sich nur bei extrem niedrigen Temperaturen des Detektormaterials nachweisen. Zu Einsatz kommen also tonnenschwere flüssige Edelgase, wie im XENON-Experiment, an dem die Gruppe um Laura Baudis an der Universität Zürich massgeblich beteiligt ist. Das Experiment ist installiert im Gran Sasso Tunnel im benachbarten Italien, tief unter dem Erdboden um Untergrund aus der gewöhnlichen kosmischen Strahlung abzuwehren. Da bislang noch kein Nachweis gelungen ist, wird das Experiment stetig ausgebaut, im nächsten Schritt von etwa einer Tonne Detektormasse auf mehr als das Vierfache. Zusätzlich zum reinen Nachweis von Streuungen wäre eine jährliche Modulation der Reaktionsrate ein sicherer Beweis für Dunkler Materie als Auslöser. Wir warten gespannt auf die Ergebnisse, die bald vorliegen dürften.
Teilcheninhalt von Dunkler Materie
Parallel dazu muss man natürlich auch versuchen, die traditionelle Methodologie der Teilchenphysik zum Einsatz zu bringen, um den Teilcheninhalt von Dunkler Materie aufzudecken. Bei jeder neuen Generation von Beschleunigern gehört also die Suche nach der Erzeugung von c-Teilchen zu den vordringlichen Aufgaben. So ist es natürlich auch bei den Experimenten am Large Hadron Collider LHC des CERN in Genf. Federführend dabei sind die Experimente ATLAS, mit Beteiligung vieler Mitarbeiter der Universität Genf unter der Leitung von Giuseppe Iacobucci, Tobias Golling und Anna Sfirla, und CMS, mit einer starken Gruppe von der ETH Zürich unter Leitung von Günther Dissertori und Rainer Wallny. Die Abbildung zeigt den ATLAS Detektor, eine beeindruckende Gemeinschaftsarbeit von mehreren tausend Physikern und Ingenieuren.
Wechselwirkung erzeugen – Dunkle Materie
Auch hier ist die Signatur für die Erzeugung von c-Teilchen eine ganz besondere: man weist nämlich buchstäblich nichts nach! Da c-Teilchen so gut wie nicht mit der Detektormaterie wechselwirken, beobachtet man lediglich die Abwesenheit von Teilchen nach einer Reaktion, und zwar dort, wo aus Gründen der Energie- und Impuls-Balance eigentlich welche sein müssen. Ein Beispiel zeigt die Abbildung unten. Die Richtung der fehlenden Energie ist durch die gestrichelte weisse Linie angedeutet. So oder so ähnlich würde die Produktion eines c-Teilchens aussehen. Hier handelt es sich aber nicht um Dunkle Materie. Was aus dem Detektor entweicht sind vielmehr in zwei Neutrinos aus dem Zerfall eines bekannten Teilchens, des Z-Bosons. Die sichtbaren Teilchen auf der gegenüberliegenden Seite stammen aus dem Zerfall eines Higgs-Bosons. Dies sind samt und sonders Ingredienzien, die das Standardmodell beschreibt. Ein Nachweis der Erzeugung Dunkler Materie an Beschleunigern ist bislang nicht gelungen, aber auch hier ist ein Ende der Versuche noch in weiter Ferne. Ein neues Experiment am CERN mit Namen SHiP soll ausserdem in naher Zukunft die Suche mit einem neuen Ansatz intensivieren.
Ein Beispiel für fehlende Energie (gepunktete weisse Linie) im Endzustand der Kollision zweier Protonen im Large Hadron Collider des CERN. Alle sichtbaren Teilchen konzentrieren sich in der oberen linken Ecke des Detektors.
Im Zentrum der Milchstrasse dagegen wäre die Dichte von Dunkler Materie um ein Vielfaches höher. So mag es sein, dass in diesem Zentrum Teilchenprozesse unter Beteiligung von Dunkler Materie stattfinden, die uns nachweisbare Signale zur Erde senden. Solche Signale wären z.B. hochenergetische Photonen, Neutrinos oder geladene kosmische Teilchen wie Elektronen oder Protonen und ihre Antiteilchen.
Die klassischen Methoden der Astronomie –der Nachweis von Licht, also Photonen– sind hier in Schwierigkeiten. Dunkle Materie sendet, wie ihr Name schon sagt, kein Licht aus, lenkt es allenfalls durch Gravitation ab. Allerdings sind die c-Teilchen ihre eigenen Antiteilchen. Daher kann es zu Vernichtungsreaktionen kommen, bei denen normale Teilchen wie Photonen, oder Teilchen-Antiteilchen-Paare aus normaler Materie entstehen. Es ist alles andere als einfach, aus der Vielfalt von verschiedenen kosmischen Teilchenquellen die Dunkle Materie herauszufischen. So bleibt nach Abzug aller bekannten Photonen-Quellen im Zentrum der Milchstrasse nur ein schwaches diffuses Signal übrig, das von Dunkler Materie herrühren könnte. Es wurde im Jahre 2009 vom FERMI-Satelliten der NASA nachgewiesen.
Auch geladene Teilchen der kosmischen Strahlung kommen in grosser Zahl von mehr oder weniger gut verstandenen astrophysikalischen Quellen. Eine besondere Rolle kommt dabei den sogenannten Supernovae zu, Explosionen, die einem Kollaps von Sternen folgen, denen der Brennstoff ausgeht. Solche Explosionen schleudern das Material der Sterne mit grosser Wucht heraus.
Neben dem Big Bang am Anfang des Universums sind Supernovae wohl eine Hauptquelle kosmischer Strahlen. Wasserstoff und andere leichte Atomkerne sowie Elektronen dominieren ihre Zusammensetzung. Viel seltener sind dagegen Teilchen der Antimaterie wie Antiprotonen und Positronen, die Antiteilchen der Elektronen. Sie kommen im Sternenmaterial nicht vor und werden allenfalls durch Wechselwirkungen normaler Materie mit interstellarem Material erzeugt. Wenn sich c-Teilchen untereinander vernichten, entsteht dagegen Materie und Antimaterie in gleichem Masse. Eine Suche nach Signalen Dunkler Materie mit Hilfe von Antiteilchen bietet sich daher an.
Kosmische Strahlung wird analysiert – Dunkle Materie
Diesen Ansatz verfolgt das AMS-Experiment auf der Internationalen Raumstation ISS. Es handelt sich um ein magnetisches Spektrometer, das Teilchen und Antiteilchen anhand ihrer entgegengesetzten elektrischen Ladung unterscheidet. Das Photo zeigt den Detektor auf der grossen Quertrasse der Station. Seit Mai 2011 analysiert AMS kosmische Strahlen in nie dagewesener Zahl, bislang fast 150 Milliarden. In jüngster Zeit ist in vier Ausseneinsätzen von Astronauten eine defekte Komponente erfolgreich ersetzt worden. AMS wird damit seine Präzisionsanalyse der kosmischen Strahlung für die gesamte Lebensdauer der ISS fortsetzen können.
Und in der Tat findet sich im Energiespektrum der Positronen bei hohen Energien eine auffällige Anomalie. Sekundär erzeugte Positronen, also solche, die durch Wechselwirkungen von Elektronen mit interstellarer Materie stammen, sollten stets eine niedrigere Energie als ihre Mutterteilchen haben. Oberhalb einer bestimmten Energie werden Positronen aber signifikant zahlreicher, wie die Abbildung unten zeigt. Der Effekt bricht bei einer Energie von ungefähr achthundert Protonenmassen abrupt ab.
Das könnte daran liegen, dass bei der Vernichtung zweier c-Teilchen kein Teilchen entstehen kann, dass schwerer als das c-Teilchen selbst ist. Diese Beobachtung stellt allerding noch keinen Beweis dar, dass die Positronen aus der Vernichtung von Dunkler Materie stammen. Auch lässt sich der Weg der Positronen von ihrer Quelle bis zu uns nicht zurückverfolgen. Durch die Magnetfelder in der Milchstrasse werden sie so sehr durcheinandergewirbelt, dass ihre Einfallsrichtung nicht auf ihre Quelle weist. Auch gibt es konventionelle Quellen von Positronen, wie etwa die schnell rotierenden Neutronensterne, die man Quasare nennt. Neuere Daten von terrestrischen Observatorien wie HAWK in den USA lassen diese konventionellen Quellen allerdings zunehmend unwahrscheinlich erschienen.
Das Spektrum kosmischer Positronen in Abhängigkeit von der Energie, gemessen vom AMS-Experiment. Es lässt sich beschreiben als die Summe konventioneller Quellen (grau) und einer zusätzlichen, noch unbekannten
Eingekreist aber nicht nachgewiesen – Dunkle Materie
So sind die Teilchen, aus denen Dunkle Materie bestehen sollte, von allen Seiten eingekreist, aber noch nicht nachgewiesen. Nicht verschwiegen soll allerdings auch sein, dass es zwei Möglichkeiten gibt, wie sie sich auf absehbare Zeit dem Nachweis entziehen könnten. Zum einen gibt es Teilchen am Rande des Standardmodells, die unter Umständen die gesuchte Rolle übernehmen könnte. Es handelt sich um die sogenannten sterilen Neutrinos, eine Variante, die noch viel weniger als die bekannten Neutrinos mit gewöhnlicher Materie wechselwirkt. Sollten sie hinter der Dunklen Materie stecken, wird der Nachweis damit noch einmal deutlich schwieriger.
Und, last but not least, kann man sich immer auf unsere Freunde aus der theoretischen Physik verlassen, wenn man nach neuen Ideen sucht. So haben wir ja Newtons klassische Gravitationstheorie und Einsteins allgemeine Relativitätstheorie bei den astrophysikalischen Hinweisen auf Dunkle Materie benutzt. Es könnte aber sein, dass beide bei grossen Distanzen, vergleichbar mit der Grösse der Milchstrasse, schlicht versagen. Das wäre ein nie dagewesenes Phänomen, aber vielleicht gäbe es dann keine Dunkle Materie. Vielmehr wäre die Dynamik der normalen Materie eine andere, mit einem anderen, noch wenig erforschten Abstandsgesetz. Dieser Ansatz widerspricht zwar unserer bisherigen Erfahrung von der Einheit der Physik, philosophisch und experimentell ausschliessen lässt sich eine solche List der Natur aber bislang nicht.
Seit der Entdeckung der Dunklen Materie vor bald 90 Jahren wird immer wieder vorhergesagt, dass in den nächsten 10 Jahren ihr Ursprung aufgedeckt sein werde. Aber Prognosen sich eben schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen…
Autor Martin Pohl
Martin Pohl, geboren 1951 in Deutschland, erhielt seine Ausbildung in experimenteller Teilchenphysik in den 1970er Jahren an der RWTH Aachen. Er hat an Experimenten an den Beschleuniger-Zentren DESY in Hamburg und CERN in Genf gearbeitet, zuletzt an den Experimenten L3 und ATLAS. Um die Jahrtausendwende wandte er sich Experimenten im Weltraum zu. Seitdem hat er hauptsächlich zum Experiment AMS der NASA auf der Internationalen Raumstation beigetragen. Er war u.a. Direktor des Instituts für Teilchenphysik und des Physik-Departements der Universität Genf und Vorsitzender der Vereinigung schweizerischer Teilchenphysiker CHIPP. Seit 2017 ist er emeritiert. Er ist Autor eines Lehrbuchs für Teilchenphysik und zweier Online-Kurse (auf französisch und englisch) über dasselbe Thema auf der Plattform Coursera. 2020 erscheint sein neues Buch mit dem Titel Particles, Fields, Space-Time: From Thomson’s Electron to Higgs’ Boson.
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